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Prof. em. Dr. phil. Dr. h.c. Dipl. Phys. Helmut Schnelle (28.2.1932 – 22.4.2015)
Donnerstag, 07. Mai 2015
Helmut Schnelle, bei dem ich 1969 promovierte, war begeisterter Linguist und Sprachphilosoph sowie Begründer von Theoretical Linguistics und von 1975 bis 2000 Herausgeber dieser Zeitschrift. Er starb im Alter von 83 Jahren in Berlin; er hinterläßt seine Frau Marlene, seine Kinder Daniele und Andreas und zwei Enkelkinder.
Geboren in Köln, machte Schnelle sein Abitur in Bochum und studierte Physik in München, Heidelberg, Bonn und Paris. Als Physiker am Bonner Institut für Phonetik und Kommunikationsforschung angestellt, fand er schnell heraus, daß sich seine Interessen viel mehr auf Wissenschaftstheorie und Kommunikation als auf Arbeit im physikalischen Labor bezogen. Folgerichtig promovierte er im Fach Philosophie über „Zeichensysteme zur wissenschaftlichen Darstellung als Entfaltung der Ars Characteristica im Sinne von Leibniz“ (1961) und habilitierte sich mit den „Prolegomena zur Formalisierung in der Sprachwissenschaft“ (1967). Für sich selbst formulierte er zwei zentrale Herausforderungen „(a) Klärung des präzisen Verhältnisses zwischen den Strukturen bekannter Algebren und den Strukturen sprachlicher Ausdrucksmengen und ihrer Bedeutungen einerseits und (b) Entwicklung der theoretisch angemessenen Grundlagen einer dynamischen Sprachwissenschaft“ (1985 im Rückblick) Das erste Thema war vor allem Gegenstand seiner frühen Arbeiten, das zweite hat ihn zeit seines Lebens beschäftigt.
Als Schnelle 1968 nach Berlin kam, um den neu eingerichteten Lehrstuhl für Linguistik an der TU zu übernehmen, wurde er schon sehnlichst erwartet. Rasch avancierte die Mittagsstunde am Lehrstuhl Linguistik im Hochhaus am Ernst-Reuter-Platz zu einem Treffpunkt unterschiedlichster junger Leute, die sich nur einig darin waren, daß die Sprachwissenschaft in Deutschland mit neuen wissenschaftlichen Gegenständen, Methoden und Theorien zu beleben sei. Angesichts der Entwicklung von Strukturalismus und generativer Grammatik in der Kopenhagener und Prager Schule und in den USA gab es einen enormen Nachholbedarf und Hunger nach wissenschaftlicher Innovation, parallel zu den politischen Vorstellungen der 68er, zu denen wir damals mehr oder weniger gehörten. Schnelle stellte sich diesen Strömungen mit Offenheit, Toleranz und dem Willen zum rationalen Diskurs, und er konnte manche vom Sinn seiner Wissenschaft überzeugen: algebraische Formulierungen von Semantik und Pragmatik, Grammatik als kategorial beschränkte Algebra, Studium der Kindersprache sowie spezieller zweckgebundener Sprachen.
15 Jahre später, als Schnelle inzwischen (seit 1976) an der Ruhr-Universität in Bochum lehrte und viele andere der früheren Berliner nun in Westdeutschland lebten, versammelten Thomas Ballmer und Roland Posner 35 Einzelbeiträge zu Schnelles 50. Geburtstag (Nach-Chomskysche Linguistik. Neuere Arbeiten von Berliner Linguisten, Berlin: de Gruyter 1985). In einem Akt nostalgischen Nachblickens sprechen sie von der Berliner Schule, gleichzeitig zugebend, daß es weder ein Manifest noch einen Plan oder eine feste Veranstaltungsreihe gegeben hat. „Berliner Schule“ meint rückblickend eine Ansammlung vielseitig an Sprache interessierter Personen in Westberlin, während auf der anderen Seite der Mauer eine ergiebige und einflußreiche Berliner Arbeitsstelle für strukturelle Grammatik existierte, die ein Manifest und eine Schriftenreihe besaß – eine wirklich schizophrene Situation.
Schnelle pflegte Beziehungen zu den führenden Wissenschaftlern seiner Zeit. Höhepunkte der Berliner Zeit waren Einladungen an Yehoshua Bar-Hillel (den Wiener aus Jerusalem), mit dem wir ein ganzes Semester lang heftig diskutierten, und Carl-Gustav Hempel (den Oranienburger aus Princeton). In Jerusalem besuchte Schnelle als erster Nachkriegsdeutscher die Hebrew University, in den USA Zentren der Computerlinguistik, in Paris den Verblexikon-Spezialisten Maurice Gross. Er arbeitete in vielen Wissenschaftsgremien in Deutschland und im größeren Europa (u.a. in der Academia Europaea), organisierte ein Forschungszentrum für kognitive und neuronale Netzwerke in Bochum, eine internationale Zusammenarbeit in der Analyse von Jiddisch-Dialekten und eine Ehrendoktor-Verleihung für Roman Jakobson. Sein Buch von 1981 hieß „Sprache und Gehirn – Roman Jakobson zu Ehren“ (Frankfurt: Suhrkamp).
Traf man Helmut Schnelle irgendwo am Rande einer Veranstaltung, war man innerhalb von wenigen Minuten in tiefgründige Überlegungen verwickelt, zum Beispiel darüber, welche Theorieteile es verdienen, weiter ausgebaut zu werden. Zuletzt war seine Hauptaufgabe, das Gehirn besser zu verstehen, das Organ, das unsere Fähigkeit zu sprechen beherbergt. „Language in the Brain“ hieß sein letztes Buch (Cambridge University Press 2010). Da litt er noch nicht an den semantischen Brüchen in seinem Kopf.
Schnelle war immer herzlich und Gentleman, geradlinig, gesprächsbereit und nicht korrumpierbar. Er war ein religiöser Mensch, hatte ein tiefes Verständnis für die Künste, diskutierte mit Oswald Wiener über kreative Prozesse in Kunst und Wissenschaft, schrieb über die poetische Sprache Paul Valerys, konnte Fotos und Bilder erklären und sich in Musik versenken. Musik von Bach wünschte er sich, als er an sein Ende dachte.