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ERC-Präsident Jean-Pierre Bourguignon über Wissensvermittlung in postfaktischer Zeit
- Nicht nur zur Politik, sondern auch zur europäischen Forschung werden wichtige Entscheidungen in Brüssel getroffen
[1]
- © Fotolia/artjazz
„Wissenschaft in Zeiten des Postfaktischen
– Forschung und Öffentlichkeit“ steht über der Debatte, die die
ERC-Veranstaltung „High Risk High Gain – Groundbreaking Research
in Berlin“ an der TU Berlin begleitet. Warum erscheint eine solche
Diskussion heute notwendig? Besteht die Gefahr, dass Wissenschaft an
Glaubwürdigkeit verliert?
Die Frage des Zugangs zu den
Aussagen der Wissenschaft für ein breites Publikum war immer da. Doch
hat diese Frage heute besondere Bedeutung: Erstens steht heute dank
des Internets viel mehr Information zur Verfügung, und zwar fast
unverzüglich, zweitens ist in den letzten 20 oder 30 Jahren die
Wirkung von Ereignissen und Entwicklungen, deren Quelle die Arbeit von
Forschenden ist, auf das Leben der Bürgerinnen und Bürger gewachsen.
Vieles, wie zum Beispiel medizinische Fortschritte, wird als sehr
positiv empfunden, während andere Entwicklungen, die möglicherweise
Arbeitsbedingungen oder Arbeitsplätze gefährden, als nicht so
positiv betrachtet werden. Eine Konsequenz davon ist, dass die
Gleichung zwischen Wissenschaft und Fortschritt, die am Anfang des 20.
Jahrhunderts oft gezogen wurde, nicht universell angenommen wird. Das
ist nicht neu. In der Vergangenheit gab es viele wissenschaftliche
Entdeckungen, die als ketzerisch angesehen wurden. In die Diskussion
sind heute, wie gesagt, viel mehr Leute involviert, und Meinungen
werden viel schneller – und oft gedankenlos – geäußert. Einige
Gruppen von Aktivisten haben es verstanden, einen großen Einfluss
durch die Verbreitung von Pseudo-Fakten zu gewinnen. Das geht viel
tiefer als die Propaganda, die immer existierte.
Der ERC fördert EU-weit insbesondere Grundlagenforschung.
Diese ist der Öffentlichkeit häufig besonders schwierig zu
erklären. Insbesondere, wenn es um die bloße Generierung von Wissen
geht, also mögliche Anwendungsfelder wirtschaftlicher, industrieller
oder gesellschaftlicher Natur nicht auf Anhieb erkennbar sind. Gibt es
dabei Unterschiede, wie die Menschen in den einzelnen Ländern
reagieren?
Natürlich reagieren Menschen verschiedener
Länder mit verschiedenen kulturellen Hintergründen nicht alle
gleich. Kernpunkt der Frage ist, wie ein besseres Verständnis des
wissenschaftlichen Forschungsprozesses gewonnen werden kann. Das ist
nicht leicht, denn das kann viel länger dauern als andere Prozesse in
der Gesellschaft, beispielsweise die Steuerung des politischen Lebens.
Die Lösung liegt oft in einer substanziellen Änderung der
Ausgangsfrage. Das nehmen die Leute nicht leicht an, weil das nach
ihrem Gefühl keine richtige Antwort ist. Oft müssen die Forschenden
auch ihre Meinung ändern, wenn sie erkennen, dass das, was früher
als vollständige Beschreibung eines Prozesses betrachtet wurde, eben
nicht vollständig ist. Ein permanent kritischer Blick auf die von der
Wissenschaft vorgeschlagene Beschreibung der Realität ist eine der
Säulen der wissenschaftlichen Methodik.
Wissenschaft gerät damit aber auch immer stärker unter Druck,
nicht nur Wissen zu vermitteln, sondern unterhaltsam zu sein – hier
in Berlin gibt es zum Beispiel Veranstaltungen wie „Mein Prof ist
ein DJ“, „Wissenschaftsshows“, sehr populäre „Science
Slams“ oder die Pecha-Kucha-Vorträge – 20 Folien in sechs Minuten
–, die auch die ERC-Veranstaltung am 20. Juli begleiten – ist das
der richtige Weg?
Es ist wahr, dass heute etwas mehr von
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern verlangt wird. Sie müssen
ihre Ergebnisse in Übereinstimmung mit den zeitgemäßen Standards
präsentieren: sehr scharfe Formulierung, schnelle Reaktion, die
wichtigere Rolle von Bildern. Es ist eine große Herausforderung, denn
oft ist eine solch extreme Zusammenfassung von komplexen, subtilen
Inhalten dafür nicht geeignet. Vielleicht liegt die Lösung darin,
dass man nicht die vollständige Natur des Problems liefern soll,
sondern nur dazu ermutigen, mehr zu entdecken. Dazu gehört auch die
notwendige Wiederholung, dass nur Geduld und viel Arbeit wichtige
Fortschritte bringen.
Was bedeutet dieser Druck für die großen
Fördereinrichtungen, zu denen ja auch der Europäische Forschungsrat
zuoberst gehört? Hat das Auswirkungen auf die Prüf- und
Evaluationsverfahren, die den Projektbewilligungen
vorausgehen?
Dieser Druck ist sicher da, aber es ist
wichtig, dass Fördereinrichtungen wie der ERC ihre grundsätzlichen
Regeln, Entscheidungen zu treffen, nicht ändern, vor allem die, der
wissenschaftlichen Qualität absolute Priorität zu geben, ohne
Berücksichtigung sekundärer Gründe. Dennoch soll sich der ERC auch
bemühen, die Forschenden auf diese neuen Bedingungen aufmerksam zu
machen: durch geeignetes Training oder relevante Veranstaltungen, wo
sie sich mit Journalisten, Politikern und natürlich auch mit dem
breiten Publikum austauschen können. Dafür müssen neue Kompetenzen
entwickelt und gebündelt werden.
Vielen Dank!
Prof. Dr. Jean-Pierre Bourguignon, Präsident des Europäischen Forschungsrates (European Research Council, ERC)
[2]
- © Jeremy Barande
Seit Januar 2014 ist Prof. Dr. Jean-Pierre Bourguignon Präsident des Europäischen Forschungsrates (European Research Council, ERC). Der Mathematiker war von 1986 bis 2012 Professor an der École polytechnique in Paris, war Präsident der Société Mathématique de France sowie der European Mathematical Society und ist Mitglied weiterer Europäischer Forschungsorganisationen. Er wurde ausgezeichnet mit vielen hochrangigen Preisen und hält Ehrendoktorwürden in Japan und China.
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