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Gleichstellung ist ein Wettbewerbsfaktor für die Zukunft
Frau Professor Neusüß, Sie sind angetreten, um sowohl Studierende am Anfang ihres Berufslebens als auch gestandene Professoren zu beraten, wie sie mehr "Gender und Diversity" in der Lehre unterbringen, in der Institutsstruktur und im wirtschaftlichen Denken. Warum ist "Gender Diversity" in der Wirtschaft heute wichtig und wie kann man den Begriff fassen?
Tatsächlich wird heute von immer mehr gerade international tätigen Unternehmen Vielfalt als Erfolgsfaktor wahrgenommen. Zahlreiche wissenschaftliche Studien unterstützen dies. Unternehmen versprechen sich davon unter anderem Zugang zu hoch qualifizierten Arbeitskräften, vor allem im Fach- und Führungsbereich, sowie eine bessere Kundennähe. Um die Vielfalt in Unternehmen produktiv zu machen, braucht es entsprechenden Willen, geeignete Zielsetzungen sowie neue Kompetenzen. Wir finden immer noch wenige Frauen in den Top-Etagen der Privatwirtschaft. Organisationskulturen sind geprägt von Vorstellungen über Maskulinität, wie zum Beispiel Berufskarrieren und Arbeitszeiten, die sich am männlichen Alleinverdienermodell orientieren. Auch in der sogenannten Care-Ökonomie, in den Haushalten und Familien, wo Arbeitskraft "hergestellt" und gepflegt wird, gibt es geschlechtsspezifische Schieflagen. Diese reproduktive Seite wird in gängigen Vorstellungen von Wirtschaft häufig ausgeblendet. Hier sind Männer gefragt, die sich an Erziehungs- und Pflegearbeiten in der Familie gleichermaßen beteiligen und sich für entsprechende Angebote zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie gemeinsam mit Frauen öffentlich einsetzen.
Die Vielfalt unterschiedlicher Erfahrungshintergründe, Perspektiven und Prioritätensetzungen fehlt einer eindimensionalen Wirtschaft, die einem Geschlecht die Teilhabe verwehrt und Potenziale ungenutzt lässt. Es geht aber auch nicht ausschließlich um die Frage von Geschlecht. Auch andere soziale Merkmale wie etwa sozialer und kultureller Hintergrund, Alter, Behinderung oder die sexuelle Orientierung können Chancen auf Teilhabe einschränken oder aber zusätzliche Potenziale bieten. Ich versuche, möglichst schon jungen Leuten, späteren Fach- und Führungskräften, Gender-Diversity-Kompetenz und auch die Bedeutung von ethischen Werten und Rechtsbewusstsein zu vermitteln.
Gender Mainstreaming ist eine europäische Richtlinie, die das Ziel der Gleichstellung verfolgt und der alle EU-Mitgliedsstaaten verpflichtet sind. Durch frühzeitige Maßnahmen von der Frauenförderung bis zur Entwicklung geschlechtssensibler Arbeitsinstrumente bei der Planung neuer Projekte sollen Geschlechterhierarchien abgebaut werden.
Dazu gehört auch, vielfältige, eben nicht stereotype Vorstellungen von "Männlichkeit" und "Weiblichkeit" zu entwickeln. Schon das Grundgesetz hat vor 60 Jahren die Gleichberechtigung von Frauen und Männern festgeschrieben und in einer späteren Reform formuliert, dass der Staat aktiv werden muss, um dieses Ziel zu erreichen. Seitdem hat es viele Fortschritte gegeben. Die Bundesregierung hat im Jahr 2000 Gender Mainstreaming als Leitprinzip eingeführt. Zwischen Leitbild und Realität klafft jedoch immer noch eine große Lücke. Hier ist noch viel zu tun.
Eines Ihrer Themen, das auch Inhalt eines fachübergreifenden Seminars für Studierende im kommenden Wintersemester sein wird, ist die Chance für innovatives Unternehmertum, das aus der Krise erwächst. An welche Chancen denken Sie?
Immer mehr Menschen stehen heute, freiwillig oder unfreiwillig, vor der Frage der Selbstständigkeit. Social Entrepreneurs sind Menschen, die sich mit unternehmerischem Engagement innovativ, pragmatisch und langfristig für einen gesellschaftlichen Wandel einsetzen. Sie spornen die Gesellschaft und Wirtschaft an. Das Gemeinwohl hat Priorität. Die bekanntesten Beispiele für Social Entrepreneurship hat der Nobelpreisträger Yunus mit seinen Mikrokrediten geschaffen. Bei der Beobachtung von Armut und der Überlegung nach Abhilfe hat er herausgefunden, dass Frauen mehr in die Bildung ihrer Kinder investieren und Kredite verbindlicher zurückzahlen. Im Sozialunternehmertum liegen erhebliche Potenziale für mehr Qualität in der Wirtschaft: Wie können soziale Schieflagen stärker als bislang Ausgangspunkt für kreatives und nachhaltiges wirtschaftliches Handeln werden? Wie lassen sich Gemeinwohl, Geschlechtergerechtigkeit und Vielfalt unternehmerisch nutzen und fördern?
Prof. Dr. Claudia Neusüß
Prof. Dr. Claudia Neusüß ist Gastprofessorin für "Gender Diversity in den Wirtschaftswissenschaften" in der Fakultät VII, Wirtschaft und Management. Sie hat in Bonn, Berlin und Krakau unter anderem Politologie, Psychologie und Wirtschaftsgeografie studiert und über Frauen im Sozialstaat promoviert. Sie gründete die "Berliner Weiberwirtschaft" mit, die heute die größte Frauengenossenschaft und das größte Gründerinnenzentrum Europas ist, bis 2006 war sie im Aufsichtsrat tätig. Bis 2002 befasste sie sich als geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Heinrich-Böll-Stiftung mit Geschlechterdemokratie, internationaler Zusammenarbeit, interkulturellem Management und Nachwuchsförderung. Seit 2003 führt sie ein eigenes Büro für Politikberatung, Projektentwicklung und Coaching. Sie berät Institutionen, Unternehmen und Nichtregierungsorganisationen und initiiert europaweit Projekte zu den Themen "gender mainstreaming", "gender diversity", "social entrepreneurship", "Empowerment von Frauen" und zu Multistakeholderdialogen.
Die aktuelle Wirtschaftskrise - neue Chancen für mehr Gender Diversity?
Die Veranstaltung im Rahmen der Reihe "Abende der VII" geht den Fragen nach: Wie weit bietet die Wirtschaftskrise Anlass und Möglichkeiten, sich für mehr Gender Diversity einzusetzen? Eine bessere Fehlerkultur, mehr Transparenz und eine Vielfalt der Perspektiven beinhalten auch die Hoffnung auf mehr Qualität in Wirtschaft und Management. Wie aber können Geschlechterhierarchien abgebaut und homogene Rekrutierungsmuster aufgebrochen werden? Was können wir aus Europa lernen? Was für eine Wirtschaft wollen wir überhaupt haben?
Begrüßung:
- Prof. Dr. Ensthaler, Dekan Fakultät VII, TU Berlin,
- Prof. Dr. Rita Süssmuth, Bundestagspräsidentin a.D.
- Prof. Dr. Hans Georg Gemünden, Fachgebiet Technologie- und
- Innovationsmanagement, TU Berlin
- Anke Domscheit, IT-Managerin, Mitglied EWMD
- Kgl. Norwegische Botschaft Berlin: Merete K. Wilhelmsen, Gesandte,
Geschäftsträgerin a.i.