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Dagmar Schäfer will das Chinabild des Westens grundlegend modernisieren – denn nicht alle wichtigen Erkenntnisse und Entwicklungen aus dem Reich der Mitte kommen im Westen an
- Blick auf Schanghai: zwischen Tradition und Moderne – China bietet große Mengen verborgenen Wissens
[1]
- © Sigrun Abels
Frau Prof. Schäfer,
wie entstand Ihre persönliche Affinität zu China?
Ich
war am Anfang meines Studiums – Sinologie, Japanologie und
Politikwissenschaften – für fast zwei Jahre in China. Dafür musste
man sein Studium unterbrechen. Die Studienleistungen wurden Anfang der
1990er-Jahre kaum anerkannt, und China war nicht so offen wie heute.
Mein Ziel war eigentlich der Journalismus. Doch dann wurde dort mein
tiefes Interesse für die chinesische Geschichte geweckt.
Sie sind seit mehr als zehn Jahren in Forschung und Lehre
mit der TU Berlin und dem TU-China-Center verbunden. Was hat Sie daran
gereizt?
Die TU Berlin hat diese besondere Verbindung
zwischen Technik- und Literaturwissenschaften – und es gibt das
China-Zentrum. Dort finde ich höchste Kompetenz mit sowohl
historischem als auch sprachlichem und technischem Verständnis.
Fachlich läuft hier alles zusammen, um einen Gesamtüberblick zu
bekommen. Die Studierendenschaft ist divers, international und kommt
mit verschiedensten Vor- und Sprachkenntnissen. In der Forschung
erfordert die heutige Informationsflut eine gesteigerte
Methodenkompetenz. Da bietet der Standort Berlin mit seiner Ballung an
Internationalität und Forschungseinrichtungen ebenfalls einmalige
Chancen.
China erstarkt wirtschaftlich und wissenschaftlich
sichtbar. Ist das im Westen eigentlich schon richtig
angekommen?
Nein, man unterschätzt China massiv. Obwohl
die moderne Entwicklung ja bereits vor 30 Jahren begann, wird sie hier
noch ängstlich beobachtet, weil man sie nur schwer einschätzen kann.
Denn in Deutschland beschäftigen sich nur ganz wenige Institutionen
damit, wie sich China wissenschaftlich und technisch entwickelt hat,
oder auch nur damit, wie sich im 20. Jahrhundert ein System entwickelt
hat, das ja auf einer Planwirtschaft beruhte und heute noch beruht.
Was im Westen auch nur langsam verstanden wird: Die Entwicklung Chinas
zur wirtschaftlichen und wissenschaftlichen „Supermacht“ ist keine
Zukunftsmusik mehr, sondern schon längst Fakt. Auch wenn viele
argumentieren, chinesische Wissenschaftler*innen seien nicht so
kreativ und innovativ wie wir, muss man sehen: Selbst wenn der
prozentuale Anteil von Wissenschaftler*innen und Hochgebildeten an der
Bevölkerung wesentlich geringer ist als bei uns, so sind es
zahlenmäßig dennoch viel mehr. Die Chinesen sehen ganz genau, was
hier passiert, und verstehen uns auch besser als wir sie. Man sollte
sich also weniger mit einer potenziellen „Gefahr“ beschäftigen
als vielmehr mit dem Gedanken, dass man um die Vernetzung nicht
herumkommt. Chinesische Wissenschaftler*innen kann man zukünftig
nicht mehr außer Acht lassen. Das gilt übrigens auch für
Wissenschaftler*innen aus Ländern in Südamerika oder
Afrika.
- Prof. Dr. Dagmar Schäfer ist Geschäftsführende Direktorin am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte und Honorarprofessorin der TU Berlin. Im Dezember 2019 wurde sie für ihre bahnbrechenden Beiträge zu einer globalen, vergleichenden Geschichte von Technik und Wissenschaft mit dem Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis ausgezeichnet, der mit 2,5 Millionen Euro dotiert ist. Insbesondere ihre Arbeiten zu China warfen ein neues Licht auf die dortige Wissensentwicklung
[2]
- © Hoffotografen
Wie ist das aus Ihrer Sicht am
sinnvollsten durchzuführen?
Gerade
Wissenschaftler*innen sollten sich nicht von kurzfristigen politischen
Entwicklungen lenken lassen, sondern langfristig denken: langfristiges
Engagement, Austausch, Vernetzung. Sie sollten sich auf das Thema
konzentrieren und dafür passende Partner*innen suchen, nicht so sehr
Institutionen. China schickt seine Leute schon seit vielen Jahren ins
Ausland, um mögliche Entwicklungspartner zu suchen. An den
chinesischen Universitäten werden Zentren zur Untersuchung der
Wissenschaftssoziologie und -geschichte des Westens gegründet. Man
kann sich in China für solche Themen sehr gut vernetzen. Und vor
allem: Man kann nicht früh genug mit dem Netzwerken anfangen, auch
schon im Studium. Später wird es immer schwieriger. Ich weiß, dass
die Sprache abschreckt, aber wer es wagt, hat eigentlich schon
gewonnen. Es bieten sich große Karrierechancen.
Welche eigenen Forschungsziele wollen Sie mit dem
Leibnizpreis ausbauen?
Ich möchte den
wissenschaftlichen Blick für internationale Entwicklungen öffnen –
den Austausch mit vielen Kulturen ausbauen. Das chinesische
Wissenschaftssystem ist so groß, weist so viele wichtige
Publikationen auf, die im Westen aufgrund der Sprachbarriere
überhaupt nicht wahrgenommen werden. Wir müssen uns fragen, ob wir
uns das leisten können, mit einem fast kolonialen Blick auf dem
Englischen als „lingua franca“ zu bestehen und unseren Blick auf
unsere wissenschaftliche Organisation als einziges Modell zu
beschränken. Die zu enge öffentliche Wahrnehmung von Wissen als
gegeben oder von Wissenschaft als einzig moderne Episode statt als
globales und vielfältiges Phänomen betrifft nicht nur die
Wissenschaft Chinas.
Und ich möchte die Langzeitperspektive
stärken, die verschiedenen Perioden und Epochen in den Blick nehmen.
Denn obwohl die Forschung zur Wissenschaftsgeschichte für das 20.
Jahrhundert wirklich stark ist, braucht sie Unterstützung für die
Untersuchung der frühen Perioden, um zu erkennen, wo das Wissen in
seiner Vielfalt herkommt. Denn darauf hat die westliche Forschung aus
den genannten Gründen bisher nur wenig Zugriff. Ein weiterer Fokus
zur Technikgeschichte wird konkret auf den Forschungen zu
Schnittstellen und Grenzen zwischen Tieren, Pflanzen und Materialien
liegen. Seidenraupenmanufakturen spielen da zum Beispiel eine Rolle
oder die Beschäftigung mit Material, das sich vom Tier zum Subjekt
gewandelt hat, wie Bucheinbände aus Leder, oder auch die Entwicklung
von Kunststoffen wie Polymeren. Dazu werde ich auch
Naturwissenschaftler*innen im Team haben.
Vielen Dank für das Gespräch.
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