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In dem Citizen-Science-Projekt „Schmeck!“ wollen Wissenschaftler*innen zusammen mit Laien herausfinden, was Schmecken eigentlich ist und wie man das überhaupt erforschen kann
- Mal etwas anderes ausprobieren: Statt Senf mit Boulette mal Senf mit Schokolade, Stiefmütterchen und Mehlwürmern
[1]
- © "Schmeck"-Projekt
- Angela Weißköppel (M.) und Margarita Ruby gehören zu den Citizen Scientists im „Schmeck!“-Projekt
[2]
- © georg + georg/"Schmeck"-Projekt
Farblich
macht der Teller wirklich etwas her. Das Blauviolett der
Stiefmütterchenblüten, das Schwarzbraun der bitteren Schokolade und
der braun-weiß melierte Ton von etwas Unbekanntem, das sich später
als getrocknete Würmer entpuppen wird, sind ein schöner Kontrast zum
sanften Gelb des Senfs. Aber lustvoll zugreifen möchte keiner der 15
Leute, die sich in der Lehrküche der TU Berlin an diesem Abend
zusammengefunden haben, um mit Nina Langen, Jan-Peter Voß und ihrem
Team in den nächsten zwei Jahren das Schmecken zu erforschen. Die
bittere Schokolade wird zwar schon mal in den Senf gedippt und die
Kombination entlockt dem einen oder anderen ein „Ah“ wie
„Interessant“ oder ein „Oh“ wie „Gar nicht so schlecht“.
Aber spätestens, wenn die Frage danach, was diese braun-weiß
melierten Krümel seien, mit „getrocknete Würmer“ beantwortet
wird, wenden sich die Leute doch lieber den Buchteln mit Pomeranzen
zu.
Dr. Jan-Peter Voß, Professor für Politik- und
Governancesoziologie, der den Blüten-Schokoladen-Senf-Würmer-Teller
mitgebracht hat, beobachtet die Reaktionen auf seine Kreation
genüsslich, führen sie ihn doch direkt zu der Frage: Was ist das
eigentlich – das Schmecken. Gemeinsam mit seinen TU-Kolleg*innen
Prof. Dr. Nina Langen, Leiterin des Fachgebietes Bildung für
Nachhaltige Ernährung und Lebensmittelwissenschaft, und Dr. Daniel
Kofahl will er sich in dem Forschungsprojekt „Schmeck!“ einer
Antwort nähern.
Der Ausgang ist völlig offen
Dabei haben die Wissenschaftler*innen das Vorhaben als
Citizen-Science-Projekt angelegt. Sie werden mit 23 Laienforscherinnen
und -forschern das Vorhaben bearbeiten. „Es ist eine inhaltliche
Frage zu untersuchen und eine methodische, die da lautet, ob Citizen
Science für eine solche komplexe Fragestellung als Herangehensweise
überhaupt geeignet ist“, sagt Nina Langen. In dem
„Schmeck!“-Projekt fungieren die Citizen Scientists – im
Gegensatz zu anderen solchen Vorhaben – nicht als bloße
Sammler*innen von Daten, indem sie Schmetterlinge zählen. Sie sollen
ganz wesentlich am „Versuchsaufbau“ des Projektes mitwirken, um zu
beantworten, was Schmecken ist und wie das überhaupt erforscht werden
kann. „Damit unterscheiden wir uns von anderen
Citizen-Science-Projekten und der Ausgang ist völlig offen“, so
Nina Langen.
Wie findet Schmecken statt? Als das „große
Fressen“, das stille Genießen, die rein lebenserhaltene
Nahrungsaufnahme, der Döner nach einer durchzechten Nacht und der
Kaffee am Morgen? „Allein diese Aufzählung zeigt, dass Schmecken
nicht immer das Gleiche ist und wir über das sinnliche Erleben von
Essen, so wie es im Alltag stattfindet, wenig wissen“, sagt Voß.
Sechs Geschmackssinne werden diskutiert: süß, salzig, sauer, bitter,
herzhaft und fett. Und mit diesen sechs Sinnen lässt sich mitnichten
erklären, warum den einen zu gedünstetem Hechtfilet eine Cola
schmeckt und es die anderen schüttelt vor Ekel.
Voß ist auf die
Frage nach dem Schmecken gestoßen, weil es ihn ärgerte, wie das
Thema Essen sowohl in der öffentlichen, politischen, als auch in
weiten Teilen der wissenschaftlichen Debatte behandelt wird.
„Schmecken wird gar nicht in seiner Variabilität und kreativen
Gestaltbarkeit wahrgenommen. Die Lust, dieses oder jenes zu essen –
und es zu genießen, wird als etwas fest im Körper Verankertes
begriffen, entweder biologisch determiniert oder früh anerzogen“,
so Voß. Wenn es dann um die nachhaltige und gesundheitsfördernde
Gestaltung von Essweisen geht, sei der Ansatz, oft Schmecklust durch
Vernunft, Normen und Anreize zu regulieren oder durch „Nudging“
heimlich auszutricksen. Neuere praxisorientierte und ethnografisch
angelegte Forschungen zum Schmecken zeigten aber, dass das sinnliche
Erlebnis beim Essen so komplex ist, dass es in jeder Situation anders
wahrgenommen wird. Außerdem machten die Forschungen deutlich, dass
sich Schmeckgewohnheiten verändern, dass die Art, wie etwas genossen
wird, gelernt ist und gestaltet werden kann. Das finde man zum
Beispiel bei Musik- oder Weinliebhabern, die sich mit Ausprobieren und
Üben neue Genussformen erschließen.
Dieses Potenzial würden
die Wissenschaftler*innen gern nutzbar machen. „Was wäre, wenn das
gemeinsame kreative Kochen und Essen von Eintöpfen aus saisonalen und
regionalen Produkten zu einem neuen Hobby würde, kombiniert mit
Experimenten im Fondkochen und Fermentieren von Würzsaucen? Und was
wäre, wenn sich daraus ein breiter Foodtrend entwickelte? Vielleicht
gibt es eine Möglichkeit, Nachhaltigkeitspolitik so auszurichten,
dass die Erkundung derartiger neuer Schmeckweisen befördert wird,
anstatt rote, gelbe und grüne Punkte auf die Lebensmittel zu
kleben?“, so Voß. „Dennoch tragen wir natürlich Schmeckweisen in
uns, die wir in gesellschaftlichen Kontexten erlernt haben, die uns
prägen und die man auch nicht so ohne Weiteres ablegen kann.“ Das
erklärt auch, dass es Speisen gibt, die in einer Region als
Delikatesse gelten, andernorts aber als verdorben in der Mülltonne
landen; und im Begriff des Weißwurstäquators finden diese
kulturellen Prägungen ihren sprachlichen Ausdruck.
Ziel der
ersten Phase des Projektes „Schmeck!“ ist es, mit den
Laienforscherinnen und -forschern die Komplexität des Schmeckens erst
einmal zu erfassen. Dazu bedarf es einer Methode, die das auch leisten
kann. „Die kennen wir noch nicht, die werden wir gemeinsam mit
unseren Laien entwickeln. So in ein Forschungsprojekt zu starten, ist
auch für uns als Wissenschaftler neu, denn es bedeutet, dass wir
Forschungsroutinen hinter uns lassen, wir selbst den Weg zu einem wie
auch immer gearteten wissenschaftlichen Ergebnis nicht kennen“,
resümiert Nina Langen. „Was wir allerdings wissen“, ergänzt
Voß, „ist, dass herkömmliche, verkünstelte Laborsituationen, in
denen Menschen als eine Art ‚Labormäuse‘ Punkte vergeben sollen
auf Salzig- oder Süß-Skalen, uns nicht allein dabei helfen werden,
die Komplexität des Schmeckens zu verstehen, die darin besteht, dass
Essen, Körper, Geist und Umfeld in jeder Situation auf besondere
Weise zusammenspielen. Wir suchen daher nach so etwas wie einer
„gustografischen“ Methode, mit der wir das Schmecken als konkretes
Tun und sinnliches Erleben in alltäglichen Esssituationen
beobachten.“
Irritation war das Motiv für die Würmer-Kreation
Ausgehend von den beiden Annahmen, dass Schmecken zwar kulturell
erlernt ist, aber in der konkreten Situation von vielen Faktoren wie
der körperlichen Befindlichkeit, der seelischen Verfassung, den
örtlichen Gegebenheiten und dem gesellschaftlichen Anlass abhängig
ist, wollen Langen und Voß mit den Laien untersuchen, ob und wie
Schmecken experimentell gestaltet und umgelernt werden könnte. Ein
erster Schritt, Ess- und Schmeckgewohnheiten zu verändern, ist, diese
zu irritieren. „Irritation war das Motiv für meine
Blüten-Schokoladen-Senf-Würmer-Kreation“, sagt Jan-Peter Voß.
Gelänge es, „ästhetische Pfadabhängigkeiten“, die aus
Geschmacksgewohnheiten resultieren, zu überwinden und neue
Schmeckweisen zu kreieren, so die Annahme von Nina Langen und
Jan-Peter Voß, eröffnete dies wiederum die Möglichkeit, nachhaltige
und gesundheitsverträgliche Formen der Lebensmittelnutzung und
-produktion voranzubringen, ohne gegen das anzugehen, worauf die
Menschen einfach auch Appetit haben. Das wäre auch ein Schritt in
Richtung Selbstbestimmung dahin gehend, sich den Geschmack weder von
Lebensmittelkonzernen noch von Nachhaltigkeits- oder
Gesundheitsexperten vorschreiben zu lassen. „In einer anderen
Übersetzung von Immanuel Kants ‚Sapere aude!‘ geht es darum, den
Mut zu haben, sich kreativ nicht nur des eigenen Verstandes zu
bedienen, sondern auch der eigenen Sinne“, so Jan-PeterVoß.
www.schmeckprojekt.de [3]
Citizen-Science-Projekte an der TU Berlin:
- Forschen mit der Gesellschaft [4]
- "Wir müssen uns verständlich machen" [5]
- Messen für die Forschung [6]
- Die Pilz-Revolution [7]
- Gemeinsam für mehr Sicherheit im Fahrradsattel [8]
- Das große Fressen oder der stille Genuss [9]
- "Das Wissenschaftssystem muss sich ändern" [10]
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