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Das Ordnen in einer veränderten Wirklichkeit
- Im Winter 1961/62 ging die internationale Lesereihe „Literatur im technischen Zeitalter“ auf Sendung. Sie wurde jeweils live aus dem Großen Saal der Berliner Kongresshalle, das heutige „Haus der Kulturen der Welt“, im Fernsehprogramm des Senders Freies Be
[1]
- © Berthold Werner
von Prof. Dr. Hans-Christian von Herrmann
Walter Höllerers Hinwendung zur „Sprache im technischen
Zeitalter“ war eine Passage zu kultur- und medienwissenschaftlichen
Ansätzen, wie sie heute die Arbeit der Geisteswissenschaften
bestimmen von Prof. Dr. Hans-Christian von Herrmann
Im Jahr 1959 wurde Walter Höllerer – Lyriker, Kritiker
und Germanist – auf den Lehrstuhl für Deutsche
Literaturwissenschaft an der TU Berlin berufen. Sein ehemaliger
Assistent und späterer Kollege, Norbert Miller, hat vor einigen
Jahren in dieser Zeitung unter dem Titel „Das
Walter-Höllerer-Experiment“ daran erinnert, wie klug Höllerer mit
der besonderen Situation, die ihn als Geisteswissenschaftler in Berlin
erwartete, umzugehen verstand (TU intern 7/07 [2]). Zu den wichtigsten
Leistungen seines Vorgängers, Paul Altenberg, hatte die im Frühjahr
1954 erfolgte Wiedereröffnung der Berliner Urania gehört. Höllerer
sah seine Aufgabe, neben dem Beitrag zum humanistischen „Studium
generale“, von Anfang darin, der Gegenwartsliteratur in der
kulturellen Umbruchsituation der Sechzigerjahre auf neue Weise Gehör
zu verschaffen. So erfolgte in den Jahren 1961 und 1962 zunächst die
Gründung einer Zeitschrift und eines Instituts unter dem gemeinsamen
Namen „Sprache im technischen Zeitalter“, ein Jahr später dann
die Eröffnung des Literarischen Colloquiums Berlin. Hinzu kamen
mehrere Veranstaltungsreihen, so vor allem die internationale
Lesereihe „Literatur im technischen Zeitalter“, die im Winter
1961/62 im Großen Saal der Berliner Kongresshalle, das heutige
„Haus der Kulturen der Welt“, stattfand und jeweils live im
Fernsehprogramm des Senders Freies Berlin übertragen wurde. Die Liste
der eingeladenen Autorinnen und Autoren ist beeindruckend. Auf
Ingeborg Bachmann, die die erste Lesung am 13. November 1961 bestritt,
folgten unter anderem Heimito von Doderer, Nathalie Sar- raute, Henry
Miller, Alain Robbe-Grillet, Michel Butor, Max Frisch, Eugène
Ionesco, Witold Gombrowicz und John Dos Passos, um nur einige zu
nennen. In seiner Einleitung hob Höllerer hervor, der Titel der
Lesereihe – „Literatur im technischen Zeitalter“ – sei nicht
so zu verstehen, dass hier die Technik den literarischen Texten die
Motive liefere; vielmehr gehe es um Ordnungsversuche in einer von der
Technik veränderten Wirklichkeit. Der Literatur die Aufgabe zu
übertragen, über die neue – technische – Ordnung der Dinge
Auskunft zu geben, und dies zugleich zu einer öffentlichen
Angelegenheit zu machen – darin lag sicherlich das besondere Wagnis,
das diese Lesungen bedeuteten, und es war zugleich der Grund für die
ihnen eigentümliche Atmosphäre einer aufs Äußerste gesteigerten
Gegenwart. Dazu gehörte auch, dass Höllerer hier der Literatur die
Türen ins neue Massenmedium Fernsehen öffnete, ein Schritt, der das
denkbar deutlichste Abrücken von dem Massenmedium bedeutete, das die
Jahrzehnte zuvor über Deutschland geherrscht hatte – vom Radio
nämlich. Statt als pathetische Stimmen aus dem Dunkel traten die
Schriftsteller nun in einen hellen Raum, in dem elektronische Kameras
noch die kleinste ihrer mimischen und gestischen Regungen abtasteten
und damit kontrollierten. Der kanadische Medienhistoriker Marshall
McLuhan, selbst wie Höllerer von Hause aus Literaturwissenschaftler,
verfasste damals gerade seine bahnbrechenden Schriften, in denen er
Medien nach ihren Wirkungen auf das Sensorium der Rezipienten
unterschied. So nannte er etwa das Radio ein „heißes Medium“, da
es ein einzelnes Sinnesfeld isoliere und aufheize. Das Fernsehen
hingegen beziehe durch seine mosaikartige Bildstruktur alle Sinne ein
und sei daher ein „kühles Medium“. Zu seinen Charakteristika
gehöre es, die klar umrissene Persönlichkeit zurückzuweisen und
stattdessen die Darstellung von Vorgängen zu begünstigen. Was man
darüber hinaus mit dem Fernsehen, ganz anders als beim Radio,
erhalte, sei, so McLuhan, das „Erlebnis, direkt (…) beteiligt zu
sein“. Mit ihrem Auftritt im Fernsehen verließ die Literatur also
den Raum des Buches, um stattdessen den ästhetischen Charakter einer
Performance anzunehmen, und das heißt: den Charakter einer
räumlichen und sensomotorischen Gesamtsituation, die nur teilweise
als determiniert erschien. Diesem Wagnis Höllerers, so muss man
sagen, war in jeder Hinsicht Erfolg beschieden, sodass noch zwei
weitere, ähnliche Veranstaltungsreihen folgten, die dem neuen Theater
und dem neuen Film gewidmet waren.
Was nun die Formel
„Sprache im technischen Zeitalter“ betrifft, mit der Höllerer
seiner Zeitschrift und seinem Institut zugleich Namen und Programm
gab, so zielte sie nicht allein auf eine Neubestimmung des
Literarischen. Es ging darin vielmehr um eine Gesamtvermessung des
Feldes der Sprache, das für Höllerer neben der Alltagssprache auch
die formalen Sprachen miteinschloss. So stammte der Artikel, der im
Herbst 1961 die erste Nummer der „Sprache im technischen
Zeitalter“ eröffnete, vom österreichischen Computerpionier Heinz
Zemanek. In dem von ihm geleiteten IBM-Laboratorium in Wien begann man
zu dieser Zeit gerade, die Programmiersprache PL/1 (Programming
Language One) zu entwickeln. In Höllerers Zeitschrift berichtete
Zemanek über die „Möglichkeiten und Grenzen der automatisierten
Sprachübersetzung“. Und Höllerer selbst überschrieb sein Nachwort
zu dem von ihm 1967 herausgegebenen Band „Ein Gedicht und sein
Autor“ mit: „Der Autor, die Sprache des Alltags und die Sprache
des Kalküls“. Darin heißt es: „Der Autor stößt auf das Faktum,
daß die Alltagssprache neben den künstlichen Sprachen des Kalküls
gleichberechtigt weiterbesteht, und daß beide reale Wirkungen und
Bedeutungen schaffen. In der Sprache des Alltags, also in der
Umgangssprache und in der informierenden und werbenden
Massenmediensprache wird der Ablauf des täglichen Lebens formuliert.
Aber nicht weniger ist dieses tägliche Leben von den künstlichen
Sprachen, den Formelsprachen des Kalküls beeinflußt und geformt.“
Und es sei diese zunehmend von formalen Sprachen durchdrungene
Wirklichkeit, der auch die Literatur nicht ausweichen dürfe. Dies tue
sie, indem sie weder eine „in sich beruhigte Milieuschilderung“
noch eine „Nachahmung mathematischer Formeln mit Worten oder
Buchstaben“ gebe. Vielmehr versuche sie, „die Welt in ihren
gegenseitigen Abhängigkeiten von Alltagssprache und Kalkül
darzustellen“. Jedes „Detail des hier und jetzt Sichtbaren,
Schmeckbaren, des taste and see“, erscheine heute „von den
Modellen mitgezeichnet, die das Kalkül errichtet hat, die nicht
geschmeckt und gesehen werden können“. Und die Literatur trage
diesen „Zwiespalt“ in sich aus.
- Lyriker aus der „Wiener Gruppe“ zu Gast im Berliner Studio der Akademie der Künste: Ernst Jandl (l.) und Friederike Mayröcker, in der Mitte Walter Höllerer (1968)
[3]
- © rbb
Den historischen Hintergrund dieser Äußerungen,
die auf einen literarischen Realismus unter ausdrücklichem
Einschluss formaler Sprachexperimente zielten, bilden die neuen
Möglichkeiten „nicht-numerischer Datenverarbeitung“, die damals
gerade in den Alltag vorzudringen begannen und, etwa an der TH
Stuttgart im Umfeld Max Benses, auch zu künstlerischen Experimenten
am Computer führten. Die damit verbundene Einsicht, in einer
zunehmend von Technik geprägten und damit zugleich auf eine neue
Weise künstlich gewordenen Welt zu leben, veranlasste Höllerer
dazu, in methodischer Hinsicht eine zur Semiologie erweiterte
Sprachwissenschaft anzustreben. Der Versuch, „den Zusammenhang und
den Widerspruch der verschiedenen gegenwärtigen Zeichensysteme
sichtbar zu machen“, überschritt hier aber notwendigerweise die
Grenzen der Literatur. Unverkennbar wurde dies in der von Höllerer
gemeinsam mit Edoardo Sanguineti, Karin Kiwus, Ernst Jandl, Eugen
Gomringer und anderen konzipierten Ausstellung „Welt aus
Sprache“, die vom 22. September bis zum 22. Oktober 1972 in der
Berliner Akademie der Künste stattfand. Es war keine übliche
Literatur- oder Kunstausstellung, sondern die Inszenierung eines
neuen kommunikations- und zeichentheoretisch inspirierten Blicks auf
den Alltag der Gegenwart. Dabei überschritt sie mehrfach die Grenze
zur Medieninstallation, sodass die „Welt aus Sprache“ eher als
eine technisch artikulierte Welt erschien. Was sich hier vollzog, war
also eine Neukonfiguration des Verhältnisses von Kultur und Technik,
weshalb Höllerers Hinwendung zur „Sprache im technischen
Zeitalter“ im Rückblick als Passage zu kultur- und
medienwissenschaftlichen Ansätzen erscheint, wie sie heute die
Arbeit der Geisteswissenschaften in vieler Hinsicht
bestimmen.
[4]
- © Tim Flavor
Prof. Dr. Hans-Christian von Herrmann
leitet seit April 2011 das Fachgebiet Literaturwissenschaft,
Schwerpunkt Literatur und Wissenschaft, am Institut für Philosophie,
Literatur-, Wissenschafts- und Technikgeschichte. Ein Kurzporträt
des Neuberufenen lesen Sie hier [5].
"TU intern" Februar 2012
- Online-Inhaltsverzeichnis [6]
- Hochschulzeitung "TU intern" - Februar 2012 [7]
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u_intern/2012/tu_intern_februar_2012/inhaltsverzeichnis
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