Inhalt des Dokuments
Jahrestag sollte Anlass sein, die unzähligen sprechenden Reste des Grenzregimes zu erhalten - Appell an Berlins Politiker
von Johannes Cramer und Tobias Rütenik
- East Side Gallery am Ostbahnhof
[1]
- © TU Berlin/Pressestelle/Ruta
Vor 50
Jahren wurde Berlin geteilt und von seinem Umland abgeriegelt. Erst
durch Zäune, später durch Mauern, noch später durch ein ganzes
Labyrinth unterschiedlicher Hindernisse, die ein Flüchtender hätte
überwinden müssen und immer weniger überwinden konnte. Der Versuch
kostete mehr als 100 Menschen das Leben und brachte Tausende ins
Gefängnis. Die Berliner Mauer war das Synonym des Kalten Krieges und
der Beweis für ein gescheitertes Gesellschaftssystem. Sie
symbolisierte eine ganze Epoche und ist damit ein wichtiges
zeitgeschichtliches Denkmal. Vor 22 Jahren ist die Mauer gefallen. Und
darüber freuen sich alle.
Obwohl der Mauerfall nur ein
paar Jahre zurückliegt, wissen wir heute nur noch wenig und nichts
Genaues über dieses Bauwerk des Schreckens. Entgegen den Warnungen
vieler Fachleute und den Mahnungen manch hellsichtigen Politikers
wurde die Mauer bis zum Herbst 1990 komplett abgebaut. Heute zeugen
nur noch Fragmente von dem menschenverachtenden Grenzregime. Der
interessierte Berlin-Bewohner oder Tourist hat kaum noch die Chance,
zu verstehen, wie die Stadt vor dem 9. November 1989 funktionierte.
Mit unbefangenem Blick sieht man hier und dort einige
Betonfertigteile, die zur Dekoration des öffentlichen Stadtraums
aufgestellt wurden.
Die Berliner Mauer war nur auf einem
kleinen Teil der 150 Kilometer langen Grenze rund um West-Berlin
tatsächlich eine massive Mauer. Auf zwei Dritteln der Gesamtgrenze
war und blieb sie ein Zaun, später eine Folge von Zäunen. Und was
wir heute als "Berliner Mauer" bezeichnen, war vom Herbst
1961 bis zum Mauerfall ein immer weiter ausgebautes und tief
gestaffeltes Grenzregime, das aus einer zunehmenden Zahl von
Hindernissen in einer zunehmenden technischen Verfeinerung
bestand.
Fünf zentrale Positionen
- Virtuelle Darstellung der damaligen Grenzanlagen an der Berliner Mauer
[2]
- © TU Berlin/FG Baugeschichte/Stefan Amann
Die
Entscheidungsprozesse hinter diesen Veränderungen und deren
technische Umsetzung blieben trotz einer großen Zahl von
zeithistorischen Untersuchungen und noch mehr Bildbänden zum Thema
bisher weitgehend unbekannt. Das hat sich mit der Vorlage unserer
"Baugeschichte der Berliner Mauer" geändert. Die in den
letzten zehn Jahren durchgeführte Untersuchung fokussiert nicht nur
auf die Teilung der beiden Stadthälften, sondern erstmals auf die
gesamte Grenze rund um West-Berlin. Die aufeinander folgenden
Ausbaustufen wurden mit den bewährten Methoden der historischen
Sachforschung untersucht: Archäologie, Bauforschung, Inventarisation
und Quellenauswertung, die in grafische Darstellungen und virtuelle
Rekonstruktionen münden - nicht anders als für eine antike oder
mittelalterliche Stadtmauer.
Als Ergebnis dieser Forschung
müssen fünf zentrale Positionen zur Baugeschichte der Berliner Mauer
korrigiert werden:
- Erstens gab es nicht vier Generationen der Mauer, sondern deren sechs. Auf den Drahtzaun des 13.August folgte die Mauer aus Betonblöcken, die durch die Panzermauer aus geschichteten Betonplatten abgelöst werden sollte, um die Grenze auch für schwere Fahrzeuge durchbruchsicher zu machen. Diese Bauweise war für die Grenztruppen bis in die Mitte der Sechzigerjahre die ideale Grenzmauer. Ihre Realisierung scheiterte nur an dem immensen Materialaufwand. Auf einer solchen Mauer feierten die Menschen am 9. November 1989 den Mauerfall. Die Grenzmauer der vierten Ausbaustufe (1966-1970) ist durch Betonplatten charakterisiert, die der fünften durch Fertigteile aus Beton (Grenzmauer 75). Die sechste, erst jetzt erkannte Ausbaustufe ist seit 1982 durch die "optisch-humanitäre Verschönerung" der Grenzanlagen gekennzeichnet.
- Zweitens: Wirkliche Systemsprünge gab es eigentlich nur zweimal. Bis 1966 wurde die Grenze situativ befestigt mit Baumaterial, das fast willkürlich aus unterschiedlichen Wirtschaftsbereichen abgezogen wurde. Erst das Grenzsicherungsprogramm 1966-1970 forderte einen einheitlichen Systemausbau mit zum Teil eigens für die Grenze hergestellten Bauteilen. Die Verwendung von Betonfertigteilen, die von 1975 bis 1989 die Wahrnehmung der Grenzmauer bestimmten, ist hier nur eine technisch-operative Optimierung, keine wirkliche Neuerung. Erst die sechste, neu erkannte Ausbaustufe bringt mit der weit in das Ostberliner Stadtgebiet hinein ausgeweiteten Tiefensicherung noch einmal eine Steigerung des Schreckens.
- Drittens kann man jede dieser Lösungen nur verstehen, wenn man die Gesamtheit der Grenzanlagen mit allen ihren perfiden Einzelheiten in den Blick nimmt. Die Sicht auf die Grenzmauer ist die Sicht des West-Bürgers. Der DDR-Bürger musste bis zu 15 unterschiedliche Hindernisse überwinden, bevor er den Westen erreicht hatte. Man muss also den Blick von der Grenzmauer ab- und dem Grenzstreifen zuwenden. In diesem patrouillierten nicht nur die Grenzsoldaten, sondern auch scharfe Hunde. Hier waren elektrisch geladene Zäune aufgebaut und ein kompliziertes Meldesystem installiert, das die Soldaten in die Lage versetzte, Fluchtversuche sofort zu erkennen und von einem der zahllosen Beobachtungstürme aus auf die Flüchtenden zu schießen. Eine Folge von fast beliebig vielen und mehr als drei Meter hohen Zäunen, Doppelzäunen und Mauern auf beiden Seiten der Grenze vereitelte jeden Fluchtversuch, und der Durchbruch mit Fahrzeugen wurde von Höckersperren aus geschweißten Eisenbahnschienen und tiefen Gräben unmöglich gemacht. Der Grenzstreifen und zuletzt auch sein Vorfeld nach Ost-Berlin hin waren durch Lampen taghell erleuchtet. Verstecken konnte sich da niemand.
- Viertens gab es niemals die perfekte, nach neuester Erkenntnis modernisierte Grenze. Die theoretische Entwicklung neuer Grenzsysteme war den tatsächlichen Baumaßnahmen immer weit voraus. Als 1990 die Grenze beseitigt wurde, waren weite Strecken der Grenzanlagen noch in dem in den Sechzigerjahren geplanten und gebauten Zustand, teils standen noch die Zäune und Panzermauern des Jahres 1961.
- Fünftens schließlich gehörte zum Grenzregime eine umfangreiche Infrastruktur aus Kasernen und weiteren Bauten, die von den Grenztruppen genutzt wurden, aus Produktionsbetrieben, welche die Mauerteile produzierten und vieles mehr.
Von alledem ist heute keine Rede mehr. Die
Wahrnehmung der Berliner Mauer ist auf die Reste der Grenzmauer, in
einigen Fällen auch der Hinterlandsicherungsmauer reduziert. Und das
ist falsch.
Der laufende Ausbau der Gedenkstätte Berliner
Mauer an der Bernauer Straße mit einer bemerkenswerten Zahl
authentischer Sachzeugnisse kann daran nur wenig ändern.
Unser Projekt hat gezeigt, dass es über die wenigen derzeit
denkmalgeschützten Mauerreste hinaus auf der langen Strecke von 150
Kilometern Grenze rund um West-Berlin noch unzählige sprechende Reste
des Grenzregimes gibt, die zwar nur zufällig überlebt haben, aber
gleichwohl für das Verständnis unserer jüngsten Geschichte
unverzichtbar sind. Dass sie fortgesetzt verschwinden, weil niemand
sie für wichtig hält, ist ein wirklicher Fehler, der so bald wie
möglich korrigiert werden muss.
Fragile Bestandteile des Grenzregimes unter Schutz stellen
Der 13. August 2011, der 50. Jahrestag der Teilung Berlins, sollte Veranlassung sein, noch einmal und noch gründlicher darüber nachzudenken, was konkret von der Grenze rund um West-Berlin erhalten und dem interessierten Besucher erklärt werden muss, um zukünftigen Generationen das Verständnis für dieses Phänomen der Zeitgeschichte zu ermöglichen und zu erhalten. Willkürliche und überflüssige Zerstörungen, wie sie etwa für die Erschließung der O2-Arena willfährig genehmigt wurden, müssen zukünftig unterbleiben. Restaurierungen müssen diesen Namen verdienen. Die Maßnahme an der "East Side Gallery" am Ostbahnhof erfüllt diese Voraussetzung nicht. Die Gestaltung des öffentlichen Raums muss den Schrecken, den die Grenze für jeden wahrnehmbar verbreitete, heute und auch in Zukunft transportieren. Die grüne Rasenfläche der Gedenklandschaft an der Bernauer Straße kann das kaum. Vor allem aber müssen all jene fragilen Bestandteile des Grenzregimes unter Schutz gestellt werden, die tatsächlich den größten Teil der Grenzanlagen ausmachten und die heute fast vollständig vergessen und verschwunden sind: die Draht- und Gitterzäune, die Höckersperren, die Grenzgeländer, die Laternen und Wandleuchten der Lichttrasse, die Reste der technischen Melde-Einrichtungen oder auch die geheimnisvollen Dachkämmerchen. Alles das hat heute nur deswegen zufällig überlebt, weil die Investitionen noch nicht in diese Winkel des Grenzstreifens vorgedrungen sind. Das wird aber demnächst passieren. Es ist die Verantwortung der Berliner, den Verlust dieser sprechenden Sachzeugnisse zu verhindern. Die TU Berlin hat mit ihrem Projekt für eine solche Neubewertung eine Grundlage geschaffen. Jetzt ist es an der Politik, die notwendigen Konsequenzen zu ziehen.
447 Seiten, 475 meist farbige Fotos
Petersberg (Michael Imhof Verlag) 2011
69 Euro
Autor
- Prof. Dr.-Ing. Johannes Cramer an der Gedenkstätte Berliner Mauer in der Bernauer Straße, Berlin Mitte
[3]
- © TU Berlin/Pressestelle/Dahl
Prof.
Dr.-Ing. Johannes Cramer ist Leiter des Fachgebiets Baugeschichte und
Stadtbaugeschichte im Institut für Architektur der TU Berlin. Im
Foto: an der Gedenkstätte Berliner Mauer, Bernauer Straße,
Berlin-Mitte
johannes.cramer@tu-berlin.de [4]
00710/Fotos/TU_intern/2011/Juli/08_DieMauer__April_2011
__18_.jpg
00710/Fotos/TU_intern/2011/Juli/08_Mauer_opt.jpeg
00710/Fotos/TU_intern/2011/Juli/08_CramerProfJohannes31
0311-77.jpg
nfrage/parameter/de/font3/minhilfe/id/104751/?no_cache=
1&ask_mail=YHKZfwACFf1W3XiO%2B00qqmDBvdoCT36PF4aqYt
gzk6xmD62A%2F3qFrw%3D%3D&ask_name=JOHANNES%20CRAMER
ien/publikationen/zeitungen_magazine/hochschulzeitung_t
u_intern/2011/tu_intern_juli_2011/inhaltsverzeichnis/pa
rameter/de/font3/minhilfe/
100710/Fotos/TU_intern/2011/Juli/tui7_2011.pdf