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TU-Alumnus Axel Reitel ist Schriftsteller geworden - aus Empörung
- Nach dem Freikauf aus der DDR wurde Axel Reitel in der Bundesrepublik Schriftsteller
[1]
- © TU Berlin/Pressestelle/Dahl
Der
Schriftsteller Axel Reitel ist ein Mensch, der weiß, wie viel er wert
ist: 95 847 D-Mark. So viel zahlte zumindest die Bundesrepublik
Deutschland im 1982, als sie ihn aus dem Cottbusser Gefängnis
freikaufte. Damals war Reitel ein "Krimineller". Im Westen
hätte man ihn als politischen Häftling bezeichnet, aber diese
Bezeichnung war in der ehemaligen DDR verboten. Reitel saß wegen
einer Plakat-Aktion, mit der er öffentlich für eine Ausreise in die
BRD protestieren wollte: "Für mich war das Ganze eine
Matherechnung. Wenn man für vier Jahre verurteilt war, kam man meist
nach der Hälfte der Zeit raus", sagt Reitel, der um die geheimen
Geschäfte der DDR mit politischen Gefangenen wusste und absichtlich
provozierte: Er ging ins Gefängnis, um frei zu sein.
In der Westberliner Freiheit kann der gebürtige Plauener
endlich tun, was er schon mit 15 Jahren wollte: Schreiben. Über die
wahren Zustände in der DDR. Seine ersten Erzählbände
"Zündhölzer für ein Manöver" und "Das Glück in
Mäusebach" erscheinen, noch während er an der TU Berlin
Kunstgeschichte und Philosophie studiert. An seine Studienzeit von
1985 bis 1990 erinnert sich Reitel gerne: "Sie ist für mich eine
der besten meines Lebens gewesen. Die ,research kitchen', von der
Frank Zappa redet, das wissenschaftliche Training und diese Ruhe, um
Prozesse zu begreifen, das alles kriegt man nur an der
Universität."
Der 50-Jährige schreibt heute
Hörfunk-Features für die ARD. Reitel wühlt und gräbt sich durch
Inhalte, von denen andere lieber ihre Finger lassen. Seine Themen sind
die "Kotzbrocken": "Wo sich Konflikte auftun, raucht
und knallt es. Ich frage mich immer erst: Ist das ein
Shakespeare-Stoff?", sagt Reitel, der über Zwangsaussiedlungen
an der innerdeutschen Grenze, den mysteriösen Tod des eigenen Bruders
oder über den Jugendstrafvollzug in der DDR schreibt.
Reitel geht nicht nur dorthin, wo es raucht und knallt - er kommt
auch daher. Er wächst in einem Land auf, "das Idioten aus den
Menschen gemacht hat, die dem System hörig waren. Die DDR war keine
Götterspeise, sondern ziemlicher Wackelpudding", so Reitel.
Schon als Kind bekommt er den Ost-West-Zwiespalt täglich mit:
Tagsüber ist sein Vater ein eifriger Genosse und SED-Funktionär, am
Abend schimpft er über die Versorgungslage in der DDR. Mit 17 Jahren
muss Reitel das erste Mal hinter Gitter. Um 4 Uhr morgens am 17. Juni
1978 wird er verhaftet, nachdem er bei einer spontanen
Flaggenverbrennung anwesend war: 49 Tage Jugendgefängnis in
Gräfentonna folgen. Wenn er nach dieser Zeit gefragt wird, schiebt er
lieber seinen blauen Erzählband über den Tisch. Darin beschreibt er:
"In dieser Nacht hörte keiner, wie Sascha sein Schlafkleid
zerriss. Am Morgen aber sahen alle den rotverkrümmten Körper in
Zelle 17, den Sascha in dieser Nacht verlassen hatte."
Dass damals auch seine ersten Reportagen entstanden, erkennt Reitel
erst, als er Einsicht in seine Stasi-Vernehmungsakten nimmt: Zwei
lange Verhörtage lang hatte der 19-Jährige dem Stasi-Offizier seine
Ansichten über die DDR diktiert. "Er hat alles fein säuberlich
aufgeschrieben", sagt Reitel. "Damals war er mein Richter,
im Nachhinein betrachtet war er mein Sekretär."
Was
ihn zum Schreiben treibt, ist die Empörung. Er spürt sie zum ersten
Mal als Elfjähriger, als er das Foto von Kim Phuc sieht, dem
Mädchen, das bei einem Napalm-Angriff im Vietnam-Krieg schwere
Verbrennung erlitt. Seine Empörung versieht er für sein Publikum mit
Witz und Charme und wandelt so die "harten Brocken" in
verdauliche Bröckchen um. "Schreiben ist Liebe. Das hat nichts
mit Wut, Biss oder Galle zu tun. Selbst im Unglück erlebt man
spannungsreiche Geschichten. Alles, was schiefgegangen war, war am
Ende richtig", sagt Reitel, der in einem Café unweit des
Studentenwerks sitzt. Dort im Eingang coverte er mit seiner Band
"Erste Lektion" zu Studienzeiten "The
Doors"-Lieder. Auch heute noch macht Reitel Musik. In seinem
neuen Lied "Frei" singt er: "Für immer frei von
falschen Freunden, für immer frei von ihrem Wunsch, zu
verleumden." Wer seine falschen Freunde waren, weiß Axel Reitel
nicht. Er hat die Klarnamen in seiner Stasi-Akte nie
beantragt.
"TU intern" Dezember 2011
- Online-Inhaltsverzeichnis [2]
- Hochschulzeitung "TU intern" - Dezember 2011 [3]
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